Um was geht’s?
„Sie haben das Ohr dicht an den Menschen in Ihrer Nachbarschaft, aber gleichzeitig auch die ganze Genossenschaft im Blick“, hieß es im Flyer zur Vertreterwahl meiner Wohnungsbaugenossenschaft 1892. „Passt wie die Faust aufs Auge auf dich“, meinte eine Nachbarin zu mir und da Mitbestimmen immer besser als Meckern ist, ließ ich mich für die Vertreterwahl aufstellen.
In meiner Siedlung hatten sich dreizehn Kandidat*innen für sieben Plätze beworben und bei einer Vorstellungsrunde erzählten wir, warum dem so war. Einige Wochen später lag dann ein Brief mit Glückwünschen und einem Vertreterausweis im Briefkasten: Ich war gewählt worden! Nach einem Vertreter, der sein Amt seit über zwölf Jahren ausübt und die gesamte Seniorenwohnanlage zu seiner Wählerschaft zählen kann, und einer engagierten Haussprecherin, unserem Urgestein des hiesigen Kommunikativen Wohnens, hatte ich sogar den dritten Platz auf der Liste ergattert. Für die nächsten vier Jahre darf ich nun gemeinsam mit den anderen Vertreter*innen den Aufsichtsrat wählen, Berichte abnicken und Entscheidungen beeinflussen.
Los geht’s: meine erste Vertreterversammlung
Meine erste Vertreterversammlung fand im Queens45 statt, einem Veranstaltungsort direkt neben dem Hauptgebäude der 1892 und ganz im Stil der Zwanziger Jahre eingerichtet. Im Ballsaal hängen Kronleuchter von den fast zehn Meter hohen Decken, Getränke bekommt man bei der Destille, an der Champagner- oder der Cocktailbar. Im Foyer herrschte das klassische Treiben einer Mitgliederversammlung: Namensliste unterschreiben, Namenschildchen aufkleben, Stimmkarte entgegennehmen, persönliche Begrüßung durch die Gastgeber. Für mich völlig unerwartet war die dezent an der Stimmkarte festgeklemmte kleine Aufwandsentschädigung. Im Ballsaal angekommen war dieser bereits gut gefüllt. Über 80 stimmberechtigte Vertreter*innen waren trotz über 30 Grad vor Ort, Mitarbeiter*innen der Genossenschaft und Servicekräfte wuselten herum und vor der Bühne mit ihren schweren roten Vorhängen und einer Discokugel über der Leinwand saßen in einer langen Reihe Vorstand, Aufsichtsrat und Rechnungsprüfer nebeneinander. Nach ein paar suchenden Blicken entdeckte ich im Publikum schnell zwei fröhlich winkende Vertreterkolleg*innen aus meiner Siedlung, gesellte mich zu ihnen und tauschte mich erst einmal über den neuesten Tratsch zum Sommerfest im Ortolanweg aus.
„Unsere Lieblingssprache ist die Mitsprache“
Pünktlich um 18 Uhr begann der offizielle Teil der Veranstaltung. Die Hauptsprecher, also der Vorsitzende des Aufsichtsrats und ein Vorstandsmitglied, hielten nicht zuletzt auch wegen der Hitze die Redebeiträge kurz, nur der Vermerk der Rechnungsprüfer musste in Gänze vorgetragen werden. Direkt nach den Berichten schlug ein Vertreter vor, einen Workshop zu organisieren, in dem erläutert und geübt wird, Geschäftsberichte und Bilanzen richtig zu lesen. Eine hervorragende Idee, fand ich und auch meine Tischnachbar*innen nickten interessiert. Bei genügend Interesse soll im Herbst eine entsprechende Veranstaltung angeboten werden. Ich hoffe, dass genügend Teilnehmer*innen zusammenkommen, allerdings holten sich leider nur wenige Vertreter*innen den Infozettel ab. Die nächsten Nachfragen waren zäh, aber durchaus legitim. Dass die Genossenschaft nur kurz darauf eingehen und zügig fortfahren wollte, ist zumindest plausibel: Eine Wahl stand an, es war heiß, langwierige oder kritische Fragen hätten die Stimmung kippen lassen können, zuvor hatte es bereits Vorgespräche gegeben. Dass aber auch Vertreter*innen vehement forderten, das Fragenstellen zu vertagen, war befremdlich. Spannende Diskussionen darüber, inwieweit Wohnungsgenossenschaften von der Initiative „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ betroffen sein könnten und wie sich der Berliner Mietendeckel auf die 1892 auswirken wird, lagen in der Luft, wurden aber nur kurz angerissen. Da heißt es, noch einmal selbst zu recherchieren.
Preisgekrönt
Bevor es mit der Wahl der Aufsichtsratsmitglieder weiterging, gab es einen Einspieler zum Bauprojekt Nettelbeckplatz. Mit diesem Projekt hat die 1892 den ersten Platz beim „European Responsible Housing Awards“ in der Kategorie „more than a roof“ gewonnen. Wer sich für alternative Wohnformen interessiert: Anschauen!
1892 – Nettelbeckplatz. An experimental way of renewal. A cooperative housing estate in Berlin from DAS GUTE WERK on Vimeo.
Wählen gehen!
Besonders spannend war für mich die Wahl der neuen Aufsichtsratsmitglieder. Vier von acht Kandidat*innen durften wir wählen. Nach der Vorstellungsrunde hakten Vertreter*innen vor allem bei jenen Kandidaten nach, die zwar Mitglied der Genossenschaft sind, aber nicht in einer der Genossenschaftswohnungen leben: „Was verbindet Sie mit der Genossenschaft?“, „In welchen Gremien sind Sie noch aktiv?“, „Wie lassen sich Ihre Ämter miteinander verbinden?“, gute Fragen. Irritierend empfand ich allerdings die Frage an einen der jüngeren Kandidaten: „Haben Sie Familie?“ Ging es dem Fragensteller um die vermeintlich fehlende Lebenserfahrung oder gar vielmehr um die Familienform? Leider wurde dann auch keiner der ganz Jungen gewählt, erfreulicherweise allerdings die einzige Frau, die sich hat aufstellen lassen, einen kompetenten Eindruck hinterlassen hatte und ebenfalls den Altersdurchschnitt etwas senkt. Insgesamt kann ich also mit dem Wahlergebnis gut leben.
Digitale Momente
An der Getränkebar traf ich, nette Überraschung, die Ansprechpartnerin für Digitalisierung der Genossenschaft, die mich bei meinem Tabletkurs für Senior*innen ganz wunderbar unterstützt hat und jetzt bei einem Projekt mitmischt, in dem auch ich am Rande involviert bin: digitale Schnitzeljagden für ältere Menschen durch Berlin! Einer der Kandidaten für den Aufsichtsrat wäre ein spannender Kontakt für den Digital-Kompass: Es fielen Stichworte wie KI, Pepper, Humanoide Robotik, Smart Home, Senioren.
Ran an die Schupfnudeln!
Zum Abschluss gabs für alle ein Buffet mit erfreulich großer vegetarischer Auswahl. Beeindruckend und trotz einiger Tagungscateringerfahrung noch nie gesehen: das Pommeswarmundknusprighalteblech. Der Caterer, früher mal Werkzeugmacher, wie er mir erzählte, bestätigte: Das Gerät ist auf allen Veranstaltungen immer der Hit für die hungrigen Gäste. Dank der professionellen Catering-Erfahrung meiner Nachbarin stellen wir uns bei den Warteschlangen so geschickt an, dass wir sehr schnell unser Essen auf dem Teller hatten, und das sogar ohne dadurch den Missmut anderer Gäste auf uns zu ziehen. Nach Erdbeeren und Mousse au chocolat fuhren wir zu dritt zurück zum Ortolanweg. Weiter geht’s mit unserer Vertreterfunktion am 21. September. Dann dürfen wir ein Bauprojekt der 1892 besichtigen und ich habe auch schon eine leise Vorahnung, welches das sein wird!
Ich finde Ihre präzisen Beobachtungen als Vertreterin bei 1892 bemerkenswert.
Interessant fände ich, die Günde zu erfahren, warum Sie schon nach einer Wahlperiode nicht mehr kandidiert haben.
Dankeschön. Ich habe nicht mehr kandidiert, weil ich zu wenig Zeit habe, mich wirklich für die Belange der anderen Mitglieder einzusetzen. Zum Teil fehlt mir auch das passende Wissen. Mit der 1892 als Genossenschaft hat es ausdrücklich nichts zu tun.