„Haus 72, das können Sie sich vorstellen wie eine Kommune, da trocknet die Wäsche wie in Italien vor der Tür und im Flur stehen überall Möbel.“ (Hausverwalter bei meiner ersten Wohnungsbesichtigung)
„Im Haus nebenan gibt’s einen Haus-Chor, den höre ich immer Donnerstag Abends.“ (Freundin, jetzt auch Nachbarin, kurz nachdem sie in den Ortolanweg gezogen ist)
„Damals in der 72, da war immer viel mehr los als bei uns.“ (Nachbarin)
„Im Gegensatz zu Haus B, wo Gemeinschaft mühselig und mit vielen verbindlichen Regelungen organisiert werden muss, scheint Haus C [also Haus 72] auf Spontanität und Lockerheit zu setzen.“*
Seit meiner ersten Wohnungsbesichtigung bin ich neugierig darauf, was im Nachbarhaus 72 so anders läuft als in dem Haus, in dem ich lebe. Meine Nachbar_innen sind nett, es gibt Gemeinschaftsräume, ich wohne gern hier, aber es unterscheidet sich abgesehen von einem begrünten Atrium nicht allzu sehr von einem normalen Mietshaus. Heute Abend habe ich im Haus nebenan das erste Mal erlebt, wie unser gemeinsames Motto „Kommunikatives Wohnen“ so funktionieren kann wie ursprünglich gedacht. Anlass rüberzugehen war ein Projektantrag für eine Gemeinschaftsaktion in der Siedlung (Daumen drücken!), an dem ich mitgesponnen habe und der noch besprochen werden musste. Allein der Keil, der extra für mich in der Tür lag, die offen gehaltene Tür, war eine nette Willkommensgeste. Dort, wo man in meinem Haus derzeit nur leere Stühle passiert, saßen bei gemütlicher Beleuchtung Nachbar_innen rund um einen Tisch. Bei meinem Eintreten rückten alle sofort zusammen, um Platz für einen weiteren Stuhl zu machen. Ohne großes Trara gehörte ich gleich mit zur Runde. Ein Nachbar holte eine neue Flasche Wein, eine Nachbarin brachte Chips, einige werkelten an hübscher Weihnachtsdekoration und zeichneten mir Vorlagen für das noch anstehende Adventsbasteln in meinem Haus ab. Dabei erzählten sie sich Geschichten von fast verpassten ersten Dates und missglückten Wohnungsbesichtigungen. Schuld daran war jedes Mal die vergebliche Suche nach dem Otto-Lahn-Weg, der (im Gegensatz zum Ortolanweg) auf keinem Berliner Stadtplan zu finden war. Andere hörten vor allem zu und schienen das Dabeisein zu genießen. Zwischendurch kamen Mieter_innen nach Hause oder gingen mit dem Hund raus. Wer mochte, setzt sich dazu, wer lieber in die eigene Wohnung verschwand, wurde freundlich begrüßt, aber nicht weiter behelligt oder kritisch beäugt. Laissez-faire im besten Sinne. Den Projektantrag besprachen wir natürlich auch. Nach rund drei Stunden stapfte ich zurück in meine Wohnung und hoffe, dass Haus 70 auch über den Weihnachtsschmuck hinaus bald ein bisschen wie Haus 72 wird. Ich arbeite dran!
*Kommunikatives Wohnen — Zwang zur Gruppe oder neue Gemeinschaft? Das Pilotprojekt „Ortolanweg“ der Berliner Bau- und Wohnungsgenossenschaft von 1892. Berlin 1993. S. 30
Sehr schöner Beitrag, den habe ich tatsächlich jetzt erst gefunden.
Lass uns weiter daran arbeiten! Ich finde aber kleine Schritte machen wir …
Ja, das stimmt, es geht voran.